„Nur wer das Schweigen bricht, bricht die Täter“
13. Oktober 2017:
Premiere des Thomas Melle-Stücks „Bilder von uns“ im Schauspiel Wuppertal. Den Rahmen bietet der Missbrauchsskandal am Bonner Aloisiuskolleg 2010
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Foto: Uwe Schinkel, Wuppertaler Bühnen
Wie auf dem kreisrunden Tanzplatz der griechischen Tragödie stehen die Protagonisten der neuen Wuppertaler Inszenierung des Thomas-Melle-Stücks „Bilder von uns“ in gleißendem Licht. Auf dem Podest in der Mitte dieser Brunnenanlage reckt sich der nackte Konstantin (Alexander Peiler), nur leicht geschürzt, über quälend lange Zeit in sozusagen antiker Pose. Ein durchsichtiger Vorhang wabert. Auch Konstantins ehemalige Schulkameraden nehmen langsam „griechische“ Posen an: im Maßanzug der Managertyp Jesko (Stefan Walz), den das ihm zugespielte Nacktfoto von sich aus der Schulzeit gleich aus der Bahn werfen wird; der arrogant-zynische Anwalt Malte (Konstantin Rickert) und Johannes (Martin Petschan), der, als mit Jeskos Nacktfotofund plötzlich alle Vier auf das Leid ihrer Jugend zurückgeworfen werden, die Flucht nach vorne ergreift und die Medien informiert.
An ihrer damaligen katholischen Internatsschule habe nämlich ein „pädophiles Himmelreich“ bestanden. Nicht nur in der Sklavenhaltergesellschaft des antiken Griechenlands habe die sexuelle Ausbeutung von Jugendlichen zum Privileg der Herrschenden gehört: Nein, in ihrer Jugend, in den 1980er und 1990er Jahren habe sich ihr langjähriger Schulleiter im Rahmen seines pervers manieristischen Antikekults das Recht genommen, sie, seine Schutzbefohlenen, zu missbrauchen: indem er sie nackt fotografierte, indem er ihnen auch sonstige Gewalt antat – und fürs Leben zeichnete. Wie in einer antiken Tragödie reihen sich in dieser Wuppertaler Inszenierung von Regisseur Henri Hüster und Dramaturgin Barbara Noth auch die Angehörigen der Betroffenen nahtlos in die Riege derer ein, die auch nach Jahrzehnten noch für den Täter posieren: die Frauenfiguren des Stücks Bettina (Lena Vogt), Sandra (Philippine Pachl) und die Lehrerin (Julia Reznik).
Kalt läuft es einem über den Rücken, einen Abend lang zu erleben, wie die Opfer und alle, die ihnen nahe stehen, wie Marionetten weiter an den Fäden eines „Paters der Schande“ zu zappeln scheinen (Choreographie: Sylvana Seddig). Wie sie im ebenfalls der antiken Tragödie entlehnten Wechselspiel von Solo, Dialog und Chorgeraune hinter riesigen bunten Masken verschwinden, die ihren Klage metallisch verstärken (Bühne: Hanna Rode). Thomas Melle selbst hat über sein Stück gesagt, hier habe sich die Täterseite, also die Patres einer Eliteschule, wie im antiken Theater längst davon gemacht. Die Opfer seien auf sich zurückgeworfen geblieben. Im antiken Theater hatten sich die Protagonisten einst dem ihnen von den Göttern vorbestimmten Schicksal fügen müssen. Und heute? Welche Strategien der Vergangenheitsbewältigung verfolgen Jesko & Co.?
Foto: Uwe Schinkel, Wuppertaler Bühnen
Die Wuppertaler Inszenierung arbeitet sie intensiv heraus: Sie reichen von der totaler Leugnung und Verdrängung bis hin zur Selbstzerstörung und zum Suizid. Eine Aufführung lang ist es kaum auszuhalten, wie die sämtlichen Schutzes entblößte Figur des Johannes über die Bühne irrt. Und wie sie dann im Off minutenlang ihren Selbstmord inszeniert: wiederum wie den Akt des Fotografiertwerdens durch den sadistischen Pater. Alle Figuren hören, wieder rund um den Brunnen angeordnet, versteinert mit. Die Szene wird zur einzigen Qual. Im Publikum regte sich bei der Premiere sogar Widerstand: Der Schmerz war kaum zu ertragen. Und jetzt steht für Johannes längst der Macher Jesko, der an seinem Teflonanzug doch alles abperlen zu lassen scheint, auf dem Podest, auf dem sich die Jünglinge für den Täter in Pose werfen mussten. Johannes immerhin versucht, sich aus dem Drama zu befreien. Wie es im Falle des Bonner Aloisiuskollegs, der Schule Melles, die reale Betroffenengruppe Eckiger Tisch Bonn betreibt, stellt sich Johannes der schonungslosen Analyse des Geschehenen und kämpft für Opferrechte. „Nur wer das Schweigen bricht, bricht die Täter“, heißt es auf der Bühne.
Thomas Melles brillantes Stück ist Fiktion. Es erzählt Geschichten des Machtmissbrauchs an Schwachen da weiter, wo die Täter
längst verschwunden sind und die Opfer sich von innen her zerfressen. Und das kann überall handeln: in Bonn, bei den Regensburger Domspatzen, in Familien, auf der Kölner Domplatte, in
Wuppertal, überall da, wo Menschen Menschen Gewalt antun. Ursprünglich habe er deutlicher vom Faktischen des damaligen Skandals an seiner eigenen Bonner Schule Aloisiuskolleg (Ako) abweichen
wollen, erklärte Melle 2016 im Interview des General-Anzeigers Bonn. Aber dann habe er sich gesagt: „Warum eigentlich? Es ist doch alles genau der richtige Rahmen für den Kampf, den ich
beschreiben will.“ Und wirklich: In der Story dieser Beispielschule, in deren Missbrauchsgeschichte besonders der 1970er bis 1990er Jahre, ist fürs Stück alles da, was der Dramatiker braucht.
Und Melle hat zugegriffen, sei es aus den eigenen Ako-Erinnerungen und Recherchen, sei es aus den Aufklärungsberichten oder den im Buch „Unheiliger Berg“ dokumentierten Texten der Opfer. Das
"im Gepäck", hat Melle das reale Drama konsequent auf die Ebene der Kunst gehoben.
Das „Franz-Xaver-Kolleg“ des Theaterstücks spiegelt das damalige Ako. Seine „langen Fluchten, Marmorstatuen, Marmorböden“ sind gleich denen der früheren Internatsvilla Stella Rheni, wo der „Pater Stein“ des Stücks jeden Morgen im Keller nackt „mit halber Erektion“ die kleinen Internatsjungen kalt abduscht – „unbedingt“, wie Melle sagte, sei sein Pater Stein mit dem Ako-Hauptbeschuldigten der 1970er bis 1990er Jahre, einem 2010 verstorbenen Pater, zu vergleichen. Der habe sich seit den 1960ern ein „Fürstentum“ aufgebaut, in das er möglichst die Jungen mit den „Barbourjacken“ lädt, so Melle. Die real geschehenen Segelfahrten mit den „Lieblingen“ klingen im Theaterstück an, die Saunabesuche, die Rituale des „Knechtens“, das perverse Zäpfchensetzen – und der Missbrauch, die Vergewaltigungen.
Foto: Uwe Schinkel, Wuppertaler Bühnen
In die enge Putzkammer sperrt sich der Pater mit einem Opfer ein, grunzend atmend wie vom realen Opfer dokumentiert. Wer sich
nicht beugt, fliegt ohne Abschluss vom Kolleg. Denn der Pater hat schon neue Lieblinge im Blick, deren Mütter er überzeugt, auch vom direkten Umfeld aus den Sohn ins Internat zu schicken. Alles
das hat direkte Ako-Parallelen. Melle sprach zum Stück vom „systematischen und jahrzehntelang währenden Missbrauch auf mehreren Ebenen und in den vielfältigsten Formen“, auch das durchaus der
realen Analyse gleich.
„Der perverse Geistliche“, so Melle, fotografiert die Kinder zudem nackt, wie in der Ako-Historie auch im Stück „fürs Jahrbuch“, für seine „Privatsammlung“, für die Wände der Internatsvilla, die selbst die Eltern kritiklos betrachten. Und um diese Bilder sowie das, was sie in den Fotografierten auch nach Jahrzehnten auslösen, kreist Melles Story. Auch da kann der Autor mit Bausteinen des realen Geschehens arbeiten. Etwa mit der Angst der Betroffenen, Ex-Mitschüler „Matuschka“ in den USA, der damals Schlüssel zum Geheimarchiv des Paters hatte, könne ihre Nacktbilder ins Internet gestellt haben: 2008 wurde wirklich ein Ex-Schüler wegen Besitzes von digitalen Kinderpornobildern verhaftet. Melle baut den realen „Brief der 500“ prominenten Ex-Schüler ein, den sie 2010 in den großen deutschen Medien platzierten, der ihren betroffenen Mitschülern aber sozusagen den Dolchstoß versetzte. Die damalige Missbrauchsbeauftragte des Jesuitenodens kommt vor, wie sie das Geständnis des Paters, pädophil zu sein, in „kopfpädophil“ verniedlicht.
Wuppertal ist ein gänzlich anderer Aufführungsort als bislang Bonn und Regensburg, die vor Ort ihre reale Missbrauchsgeschichte
aufzuarbeiten haben, und als Nürnberg, wo das Stück ebenfalls inszeniert wurde. Das Wuppertaler Theater am Engelsgarten will anders vorgehen. Es will „Extremzustände des Geistes“ zeigen, wie der
Regisseur sagt. Und das ist auch gut so. Aber Eines ist in Wuppertal wie an den anderen Aufführungsorten entscheidend: In "Bilder von uns" spielen allein die Opfer die erste Geige. Sie stehen im
Fokus und nicht die Täterseite, die wir doch ansonsten nur allzu gerne in den Mittelpunkt des Interesses rücken.
Thomas Melle jedenfalls hat die Wuppertaler Inszenierung in ihrer deutlichen Anlehnung ans antike Theater gut gefallen, wie er
der Autorin nach der Premiere erklärte. Für ihn sei das Authentische ohnehin ohne Kunstform gar nicht zu fassen. Erst die Kunst sei im Stande, ein Geschehen wirklich zu betrachten, auf seine
mögliche Form hin abzuhorchen und sein Wesentliches zu destillieren. Hier nehme die Kunst ihre althergebrachte Funktion wahr, Mimesis, Nachbildung der Wirklichkeit, zu sein.
16. Oktober 2017: Westdeutsche Zeitung, Wuppertal
Henri Hüster inszeniert Thomas Melles „Bilder von uns“ im Theater am Engelsgarten...
… „Es gibt keine Erlösung“, heißt es in „Bilder von uns“. Das gilt sicher auch für die unzähligen missbrauchten Schüler des Bonner Aloisius-Kolleg. Ihre Erlebnisse hat Melle, selbst ehemaliger Kolleg-Schüler, zur Basis seines Stücks gemacht. Bei den Proben zog Henri Hüster auch Ebba Hagenberg-Milius Buch „Unheiliger Berg“ heran. Hagenberg-Miliu, die den Missbrauch in Bonn aufdeckte, saß unter den Premierengästen im voll besetzten Theater am Engelsgarten. Die Journalistin lobte „Bilder von uns“, kritisierte aber im Namen der realen Opfer die bundesweite Berichterstattung vor der Wuppertaler Premiere. „Sie fühlen sich verletzt, dass der Fokus der Journalisten auf der Täterorganisation liegt.“ Gerade bei einem Stück, das die Opfer ins Zentrum rücke.
http://www.wz.de/lokales/wuppertal/schauspieler-befragen-die-erinnerung-1.2536952
11. September 2017
Theater in Nürnberg
Nun wird Thomas Melles Schauspiel „Bilder von uns“ über die Missbrauchsaufarbeitung am Bonner Aloisiuskolleg also auch in Nürnberg aufgeführt.
https://gostner.de/stueck/thomas-melle-bilder-von-uns
Bei der Vorbereitung hat das Team um Regisseurin Heike Frank intensiv mit meinem Buch „Unheiliger Berg“ gearbeitet, aus dem Melle ja für sein Stück geschöpft hat. höre ich. Man sei „tief beeindruckt“ vom „Unheiligen Berg“, in dem sich die Missbrauchsopfer mehrerer Generationen die Seele aus dem Leib schrieben.
11. September 2017
Theater in Wuppertal
Und eine zweite „Bilder von uns“-Inszenierung über Missbrauch am Bonner Aloisiuskolleg steht an, die der Wuppertaler Bühnen. Neben dem Schauspieltext von Thomas Melle war erneut mein
Buch „Unheiliger Berg“ Arbeitsgrundlage.
Meine Publikation sei eines der besten Sachbücher für Uni- und Theaterarbeit der letzten Jahrzehnte, teilt man mir mit. Es kämen zum Thema Missbrauchsaufarbeitung in
einer Institution alle Stimmen und Perspektiven zu Wort. Der Band sei ungeheuer materialreich.
Ich bin mehrfach geladen.
http://www.schauspiel-wuppertal.de/…/detailansicht-auffue…/…
21. Januar 2016
Uraufführung des Stücks "Bilder von uns" von Thomas Melle im Theater Bonn
Ein Theaterstück, das auf den Opfertexten des Buchs "Unheiliger Berg" aufbaut
Foto: Theater Bonn
Viele Bausteine für die Entwicklung des Stücks sind sehr real:
http://unheiliger-berg.jimdo.com/leseproben/kindernacktfotos/
Meine Besprechung von "Bilder von uns" im General-Anzeiger Bonn am 1. Februar 2016
Thomas Melles Stück ist Fiktion. Aber es tun sich auch Parallelen zum Missbrauchsskandal am Aloisiuskolleg auf
Von Ebba Hagenberg-Miliu
Thomas Melles Stück ist Fiktion. Es erzählt Geschichten des Machtmissbrauchs an Schwachen da weiter, wo sich die Täter längst davongemacht haben und die Opfer sich von innen her zerfressen. Und das kann überall handeln: bei den Regensburger Domspatzen, in der Odenwaldschule, in Familien, auf der Kölner Domplatte, überall da, wo Menschen Menschen Gewalt antun. Ursprünglich habe er deutlicher vom Faktischen des Skandals an seiner eigenen Schule Aloisiuskolleg (Ako) abweichen wollen, erklärte Melle im GA-Interview. Aber dann habe er sich gesagt: „Warum eigentlich? Es ist doch alles genau der richtige Rahmen für den Kampf, den ich beschreiben will.“ Und wirklich: In der Story dieser Beispielschule ist fürs Stück alles da, was der Dramatiker braucht. Und Melle hat zugegriffen, sei es aus den eigenen Ako-Erinnerungen, sei es aus den Aufklärungsberichten oder den im Buch „Unheiliger Berg“ dokumentierten Texten der Opfer.
Das „Franz-Xaver-Kolleg“ des Theaterstücks ist auch das Ako. Seine „langen Fluchten, Marmorstatuen, Marmorböden“ sind gleich denen der Internatsvilla Stella Rheni, wo der „Pater Stein“ des Stücks jeden Morgen im Keller nackt „mit halber Erektion“ die kleinen Internatsjungen kalt abduscht – „unbedingt“, wie Melle sagt, ist sein Pater Stein mit dem Ako-Hauptbeschuldigten der 1970er bis 1990er Jahre, Pater Ludger Stüper, zu vergleichen. Der habe sich seit den 1960ern ein „Fürstentum“ aufgebaut, in das er möglichst die Jungen mit den „Barbourjacken“ lädt, so Melle.
Die real geschehenen Segelfahrten mit den „Lieblingen“ klingen im Theaterstück an, die Saunabesuche, die Rituale des „Knechtens“, das perverse Zäpfchensetzen – und der Missbrauch, die Vergewaltigungen. In die enge Putzkammer sperrt sich der Pater mit dem Opfer ein, grunzend atmend wie vom realen Opfer dokumentiert. Wer sich nicht beugt, fliegt ohne Abschluss vom Kolleg. Denn der Pater hat schon neue Lieblinge im Blick, deren Mütter er überzeugt, auch vom direkten Umfeld aus den Sohn ins Internat zu schicken. Alles das hat direkte Ako-Parallelen. Melle spricht vom „systematischen und jahrzehntelang währenden Missbrauch auf mehreren Ebenen und in den vielfältigsten Formen“, auch das durchaus der realen Analyse gleich.
„Der perverse Geistliche“, so Melle, fotografiert die Kinder zudem nackt, wie in der Ako-Historie auch im Stück „fürs Jahrbuch“, für seine „Privatsammlung“, für die Wände der Internatsvilla, die selbst die Eltern kritiklos betrachten. Und um diese Bilder sowie das, was sie in den Fotografierten auch nach Jahrzehnten auslösen, kreist Melles Story. Auch da kann der Autor mit Bausteinen des realen Geschehens arbeiten. Etwa mit der Angst der Betroffenen, Ex-Mitschüler „Matuschka“, der damals Schlüssel zum Geheimarchiv des Paters hatte, könne ihre Nacktbilder ins Internet gestellt haben: 2008 wurde ein Ex-Schüler wegen Besitzes von digitalen Kinderpornobildern verhaftet.
Melle baut den realen „Brief der 500“ prominenten Ex-Schüler ein, den sie 2010 in den großen deutschen Medien platzierten, der ihren betroffenen Mitschüler aber sozusagen den Dolchstoß versetzte.
Die Missbrauchsbeauftragte des Jesuitenodens (Ursula Raue) kommt vor, wie sie das Geständnis des Paters, pädophil zu sein, in „kopfpädophil“ verniedlicht. Das Schüsselwort in der Ako-Analyse der Betroffenen vom „pädophilen Himmelreich“ schwebt über Melles Stück ebenso wie die damaligen Schlagworte der Boulevardpresse von den „Patres der Schande“. Und nicht zuletzt wird das Thema Suizide ehemaliger Ako-Schüler aufgenommen: Das Buch „Unheiliger Berg“ machte den letzten bekannten Versuch von 2013 bekannt.
28. Januar 2016
Die Deutsche Welle empfiehltt:
http://www.dw.com/de/der-verdr%C3%A4ngte-missbrauch-thomas-melle-am-theater-bonn/a-19009268
22.Januar 2016
Uraufführung des Theaterstücks "Bilder von uns" Im Theater Bonn
Ich war gestern mit drei Betroffenen, die auch in meinem Buch "Unheiliger Berg" schrieben, in der Uraufführung eines
brillanten Stücks. Melle hat das sich (gegenseitig) Zerfressen der Opfer in atemberaubenden Dialogen und einer schlüssigen Szenenfolge auf den Punkt gebracht. Die ganze Tragik von Menschen,
die, ob sie es wollen oder nicht, auch nach Jahrzehnten noch von der Willkür der Täter schwer gezeichnet sind und dann plötzlich selbst Schuld auf sich laden, kommt verdichtet auf die Bühne.
Alice Buddeberg hat mit sensibler Hand präzise inszeniert. Die karge Bühne reichte völlig aus, denn die bildreiche und gleichzeitig pointierte Sprache Melles füllte den Saal. Die Schauspieler
waren durch die Bank überzeugend. Die drei Betroffenen erkannten in den Rollen schmunzelnd die Palette der so typischen Ako-Mitschüler wieder.
Es war für mich, es war besonders für die drei Betroffenen ein denkwürdiger Abend, vor dem sie sicher auch Ängste hatten. Doch Melle hat sie an keiner Stelle bloßgestellt. Er hat ihre im "Unheiligen Berg" formulierte Leidensgeschichte zitiert, hat sie weitergesponnen und ein neues, ein eigenes Drama daraus entwickelt. Aber er hat immer den Respekt vor den Menschen behalten. Dafür bin ich Thomas Melle sehr dankbar. Möge das Stück die Diskussion um die Folgen jeglichen Machtmissbrauchs in neue Bahnen lenken. Mögen wir weiter dabei kommen, nicht immer nur die Täter, sondern die Opfer und die Aufgabe der Prävention in den Blick zu nehmen. Oder wie es ein Protagonist bei Melle ebenso wie im "Unheiligen Berg" sagt: "Ich bin nicht verjährt."
Ebba Hagenberg-Miliu
29. Januar 2016
Die Zinsmeister-Kommission über Melles Theaterstück
Die 2010 und 2011 im Auftrag der Jesuiten tätige Unabhängige Aufklärungskommission „schwerer Grenzverletzungen zum Nachteil von Kindern und Jugendlichen am Aloisiuskolleg Bonn – Bad Godesberg“ war am 27. Januar 2016 in der zweiten Vorstellung des Theaterstücks „Bilder von uns“ von Thomas Melle. Es sei ein „sehr bewegender Abend“ gewesen, meinten Professor Dr. jur. Julia Zinsmeister, Rechtsanwältin Petra Ladenburger und Diplom Pädagogin Inge Mitlacher.
Sie als Kommission hätten bis zur Herausgabe ihres Abschlussberichts im Frühjahr 2011 in Bonn den notwendigen sachlichen Blick auf die Vorfälle haben müssen. Das Buch „Unheiliger Berg“ habe im nächsten Schritt die Dokumentation und die Analysen geliefert. Und das Theaterstück finde nun einen neuen Zugang durch die Kunst, der gleichzeitig Distanz schaffe und neue Erkenntnisse fördere, sagte Zinsmeister. Die in das Stück eingegangenen Fakten über Missbruach am AKO stimmten mit ihrem Aufklärungsbericht von 2011 überein.
Es werde im Stück erneut klar, warum die Opfer so lange nicht gesprochen hätten, warum das besonders betroffenen Männern schwerfalle und wie „das System“ weiter wirke. Melle habe nachgezeichnet, dass sich gerade die Einflussreichen unter den AKO-Betroffenen bis heute nicht geoutet hätten, so Zinsmeister. Das Stück zeige: Jeder damals habe etwas gewusst, aber kaum jemand sage etwas, weil sonst die Schamgrenze überschritten werde und man sich selbst erniedrige, so Mitlacher. Ein wichtiges Theaterstück, resümierte Julia Zinsmeister.
Gleichzeitig lobte sie die weiteren Dialogbemühungen von Seiten des Aloisiuskollegs und der Betroffenengruppe Eckiger Tisch. Dahin zu kommen, dass das AKO jetzt in seiner aktuellen Erklärung die Unterzeichner des "Briefs der 500" von 2010 öffentlich auffordere, sich ebenfalls öffentlich auch zu den Betroffenen zu bekennen, sei ein großer Fortschritt im Aufarbeitungsprozess. Der "Brief der 500" ist auch wichtiges Element in Melles Theaterstück.
Ebba Hagenberg-Miliu
20. Januar 2016
Domradio übernimmt mein epd-Interview mit Thomas Melle:
16. Januar 2016
General-Anzeiger Bonn
Interview mit Thomas Melle
Bühnenstück "Bilder von uns" behandelt Missbrauch am Aloisiuskolleg
Am Donnerstag, 21. Januar, lädt das Theater Bonn zur Uraufführung des Stücks "Bilder von uns". Thomas Melle nimmt den Missbrauch an seiner Schule
Aloisiuskolleg (Ako) zum Ausgangspunkt.
Mit dem Autor sprach Ebba Hagenberg-Miliu.
Das Thema Missbrauch gilt als "abgefrühstückt" ...
Thomas Melle: Wenn die Medien verstummt sind, setzt die Kunst zu sprechen an. Erst mit genügend Abstand zum Geschehen kann man versuchen, den
Komplex in ein Theaterstück zu übersetzen, das ihm noch einmal andere Dimensionen abgewinnt. Und "abgefrühstückt" ist das Thema nicht, solange es Machtstrukturen gibt, die ausgenutzt
werden.
Ihr Stück erinnert an Fälle am Bad Godesberger Aloisiuskolleg?
Melle: Ich erzähle eine alternative Geschichte des Skandals. Der Ausschnitt, den ich wähle, beschränkt sich auf das Hochkochen der Tatsachen und die
sofort anspringende Deutungsmaschine samt Kollaps. Auch Zuschauer, denen der faktische Hintergrund fremd ist, werden mit den Fragestellungen viel anfangen können. Es geht um eine Neubewertung der
Vergangenheit, um den Kampf um eigene und kollektive Biografien.
Sind nicht auch Parallelen zum Ako-Haupttäter der letzten Jahrzehnte da?
Melle: Unbedingt. Und doch ist es kein Schlüsselstück, sondern Fiktion. Die Figuren teilen nur den biografischen Hintergrund miteinander, der
wiederum motiviert ist von den tatsächlichen Ereignissen. Ursprünglich wollte ich viel deutlicher vom Faktischen abweichen, aber irgendwann fragte ich mich: Warum eigentlich? Es ist doch alles
genau der richtige Rahmen für den Kampf, den ich beschreiben will, die richtige Wirrnis, die richtige Bestürzung.
Bei Ihnen geht der Kampf weiter?
Melle: Mit den flirrendsten Positionen, von Schuldzuweisungen bis zu Abwehrmechanismen, von Hysterisierungstendenzen bis zu Totschweigeversuchen.
Jeder, der auf dieser Schule war, muss seine Vergangenheit neu betrachten. In was für einem System ist man eigentlich aufgewachsen? Diese Umdeutung hat ein fast schon lebensbedrohliches
Konfliktpotenzial, wenn man es genau bedenkt.
Ist das Nackt-Fotografieren von Kindern überhaupt Missbrauch? Stichwort Edathy.
Melle: Mein Statement dazu ist mein Stück. Als Autor finde ich diese graduelle Verfehlung sogar interessant: Es sind Bilder, und auch die harmlosen
werden von denen, die ins Pornografische gehen, kontaminiert. Wo beginnt der Übergriff? Ab wann werden Leben womöglich traumatisiert? Das ist auch von Mensch zu Mensch verschieden: Was dem einen
ein Witz, ist dem anderen ein Trauma. Für den Dramatiker ist das erst einmal ein guter, schillernder Stoff.
Sie ziehen Parallelen zur griechischen Tragödie?
Melle: Der Einzelne findet sich in einem Schuldzusammenhang wieder, für den er nichts kann, und opfert sich und die Seinen symbolisch oder gar real.
Und lädt so wieder Schuld auf sich.
Wie spielt Ihr persönlicher Hintergrund als ehemaliger Ako-Schüler ins Stück hinein?
Melle: Ich war vor Ort, kenne die Zusammenhänge, habe Erinnerungen angezapft, dann aber wieder, um des Textes willen, so getan, als wäre ich nicht
dabei gewesen. Ich weiß genau, worum es geht, gerade ich, der ich, trotz aller Verachtung, dieser Schule auch viel verdanke.
Und wie beurteilen Sie den Stand der realen Aufarbeitung der Ako-Fälle?
Melle: Ich weiß nicht, wie dieses Problem zu lösen ist. Was wäre die adäquate Form? Wann wäre die Aufarbeitung zu Ende? Ich wundere mich über die
Kleingeistigkeit, die offenbar wurde, gerade bei Menschen, die ich sehr schätzte.
Wie beurteilen Sie die Lage nach der aktuellen Ako-Erklärung?
Melle: Die Schule macht meiner Meinung nach einen großen Fehler: Sie integriert den Schandfleck nicht in ihr Selbstbild, tut meist nur das Nötigste,
versucht, aus Gründen der PR - hier ganz weltliches Unternehmen - das Geschehene zu "managen". Dann wieder folgen unverhältnismäßig emotionale Beichten, die durch Kniefall mit allem abschließen
wollen. Doch die Vergangenheit ist gegenwärtig. Die Schule müsste diesen Komplex deshalb aktiv in ihre Identität aufnehmen, um ihn tatsächlich zu verarbeiten - und so irgendwann womöglich wieder
die Wahrhaftigkeit auf ihrer Seite zu wissen.
Zur Person
Thomas Melle, 1975 in Bonn geboren, Absolvent des Aloisiuskollegs, schreibt Romane und Theaterstücke. Seine Romane "Sickster" und "3000 Euro" wurden für den
deutschen Buchpreis nominiert. Für das Theater Bonn übersetzte er in der letzten Spielzeit William Shakespeares "Königsdramen", die Alice Buddeberg in der Halle Beuel als zweiteiliges
Theaterspektakel in Szene setzte.
Die Inszenierung
"Bilder von uns" kommt in der Regie von Alice Buddeberg als Uraufführung am Donnerstag, 21. Januar, auf die Werkstattbühne des Bonner Theaters. Es spielen Benjamin
Grüter, Hajo Tuschy, Holger Kraft, Benjamin Berger, Johanna Falckner, Mareike Hein und Lydia Stäubli. Weitere Aufführungen am 27. Januar, 2., 11., 13. und 19. Februar, 20 Uhr. Karten in den
Bonnticket-Shops der GA-Zweigstellen.
http://www.general-anzeiger-bonn.de/bonn/kultur/buehnenstueck-bilder-von-uns-behandelt-missbrauch-am-aloisiuskolleg-article1803485.html#plx441984411
3. Februar 2016:
Die Malerin Heike Vennemann-Bundschuh schrieb nach Besuch einer Theaterauführung von „Bilder von uns“ in Bonn:
„ Das Theater war wieder ausverkauft. Dennoch hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Habe ich selten erlebt. Das Stück von Thomas Melle war beeindruckend, fesselnd und ging mir wie vielen anderen (insbesondere tatsächlich Männern!) an die Nieren. Das letzte Drittel war richtig schwere Kost. Mal sehen, ob das Stück auf Tournee durch die deutsche Theaterlandschaft geht. Hauptsache ist, dass das Thema in der Diskussion bleibt. Gerade in dieser komprimierten Theaterversion wurde nochmals deutlich, wie viel da noch zu klären wäre (u. a. die Rolle des Ex-Rektors Pater Theo Schneider). "Es gibt keine Erlösung" und "Ich bin nicht verjährt" sind für mich die Kernsätze im Stück, die noch immer in meinem Kopf kreisen. Das Bild des projizierten Selbstmordes ist in meinem virtuellen Gedächtnis festgebrannt. Der Schauspieler Benjamin Berger traf mitten ins Herz.
Ich glaube, dass ein solches Stück durch Ihre unermüdliche journalistische Arbeit am Thema erst möglich geworden ist, Frau Hagenberg-Miliu. Ihre akribische Recherche für Ihr Buch „Unheiliger Berg“ hat im Stück einiges vorgegeben (etwa dass der Täterpater nur kopfpädophil sei, den „Brief der 500“, die Originalaussagen von Betroffenen usw.). Ich wünsche Ihnen weiterhin guten Mut bei der Arbeit an diesem wichtigen Thema.
3. Februar 2016:
Nachtrag zum Theaternachgespräch des Evangelischen Forums und Katholischen Bildungswerk in der Werkstattbühne Bonn am 27. Januar:
Bildungswerk-Leiter Dr. Johannes Sabel sagte, auch er als Vertreter der Katholischen Kirche müsse angesichts der im Stück gezeigten Folgen von Missbrauch, so schwer es ihm falle, den Kernsatz wiederholen: „Es gibt keine Erlösung“. Das Stück konzentriere sich lobenswerterweise ganz auf die Perspektive der Opfer, die ansonsten oft zu kurz komme. „Sie waren Kinder in einer katholischen Schule, aber sie haben da die Hölle erlebt.“ Der Riss, der durch die Taten in ihnen entstanden sei, könne nicht einfach heilen, so Sabel. „Aber natürlich gibt es die Erlösungsverheißung des Glaubens. Das Geheimnis der Erlösung kann für manchen auch Erniedrigung sein.“
Andererseits vertrat im Gespräch eine Besucherin vehement die Auffassung, die Fakten über Missbrauch am Bonner Aloisiuskolleg, auf die das Stück von Thomas Melle aufbaue, entsprächen nicht der Realität bzw. den Erkenntnissen der Aufklärungskommission. Warum das Theater Bonn ein solches Stück mit Steuergeldern inszeniere? Ich antwortete der Frau, dass genau diese Zinsmeister-Aufklärungskommission eben mit ihr diese Aufführung gesehen habe und versichere, alle Fakten entsprächen ihren Erkenntnissen (siehe Eintrag oben).
Leider sind die Bausteine zum Stück ja sehr real:
http://unheiliger-berg.jimdo.com/leseproben/kindernacktfotos/