Das Aloisiuskolleg (AKO), in Bonn als „Heiliger Berg" bekannt, gilt als Eliteschule der Jesuiten. Mit so prominenten Absolventen wie Thomas de Maizière, Till Brönner, Stefan Raab und Florian Henckel von Donnersmarck konnte sich die bis 2002 reine Jungen-Internatsschule über Jahrzehnte als Kaderschmiede der Nation preisen.
Seit es mit seiner Nachmittagseinrichtung AKO-PRO-Seminar jedoch Anfang 2010 vom Missbrauchsskandal erfasst wurde, musste sich das Aloisiuskolleg der Aufklärung zahlreicher Fälle aus 60 Jahren stellen. Als Journalistin vor Ort habe ich den für alle Seiten schmerzhaften Aufklärungsprozess begleitet. Genau vier Jahre, nachdem die Betroffenen an die Öffentlichkeit gingen und der Rektor zurücktrat, ist die Zeit nun reif für eine Bilanz. Zumal aktuell auch bundesweit die Debatte über die Legalität von Kindernacktbildern aufgeflammt ist.
Dabei kann der Fall Aloisiuskolleg exemplarisch für auch andere von Missbrauch betroffene deutsche Internatsschulen betrachtet werden. Der Machtmissbrauch, der hier das Kolleg offensichtlich über Jahrzehnte im Griff hielt und innerhalb dessen sexueller Missbrauch und das Fotografieren nackter Schüler nur eine Spielart darstellten, wird in diesem Buch also erstmals aus unterschiedlichen Perspektiven analysiert: von den Betroffenen und Angehörigen, vom Kolleg und seinem Internat, von Vertreter des Ordens, der Stadt, der Lokalpolitik, der Justiz und des Opferschutzes.
Altschüler, die sich im Netzwerk Eckiger Tisch organisierten, schildern zum ersten Mal, was auch nach Bekanntwerden der Fälle in der Aufklärung von AKO- und AKO-PRO-Fällen schief lief. Daneben stellen Vertreter des Ordens und des Aloisiuskollegs die elementaren Strukturänderungen und Präventionsmaßnahmen vor, die aus der Krise heraus entwickelt wurden. Die Lokalpolitik bekennt, dass vor Ort in Sachen Schulaufsicht gravierende Fehler gemacht wurden. Und ein Opferanwalt fordert vehement die Aufhebung von Verjährungs-fristen bei Missbrauch von Kindern.
Herzstück des Buches sind jedoch die Beiträge der Betroffenen. Zum ersten Mal erheben hier gestandene Männer aus sechs Kollegsjahrzehnten ihre Stimme. Unter dem Motto „Ich will endlich gehört werden“ haben sie sich in einem aufreibenden Schreibprozess ihren Gespenstern gestellt. Ihre tiefe Verzweiflung ist auch zwischen den Zeilen spürbar. Sie sehen ihren Kampf um Anerkennung im aktuellen Stadium der Aufarbeitung noch lange nicht als gewonnen an. Aber sie setzen in diesem Buch Zeichen.
Der Sammelband machte aber vier Jahre nach Beginn der Krise auch noch einmal Hochbrisantes erstmals öffentlich, und zwar im direkten Gespräch zwischen Betroffenen und Kolleg. Hier werden die Karten neu gemischt. Nicht zuletzt an diesen neuen Fakten muss zügig weiter aufgearbeitet werden.
Das Buch bietet also bewusst unterschiedliche Blickwinkel auf den Machtmissbrauch, der an einer deutschen Internatsschule erst jetzt offensichtlich wurde. Und plötzlich werden in dieser Anthologie auch Schnittmengen sichtbar. Lösungsoptionen und Perspektiven werden formuliert. Formen des so bitter nötigen Dialogs werden gesucht und exemplarisch gefunden: in einem direkten Streitgespräch zwischen Kolleg und Betroffenen.
Inhaltsverzeichnis:
Vorwort:
Unheiliger Berg
Ein Sammelband zur Aufarbeitung von Machtmissbrauch an einer Internatsschule.
Kontakt: hagenberg_miliu@yahoo.de